Immer wieder in seiner Geschichte war unser kleines Land zu erstaunlich Grossem fähig. Politische Entscheide jedoch waren (und sind?) derweil manchmal von Kleinmut geprägt.
Die Geschichten um die schweizerischen Kampfflugzeug-Eigenentwicklungen N-20 und P-16 sind traurige Beispiele solch verpasster Chancen. Aus heutiger Sicht fällt es schwer, die Argumente und Hintergründe, vor allem aber die politischen Manöver und Ränke der parlamentarischen Demokratie von damals nachvollziehen zu können.
Tempi passati, könnte man nun sagen. Aber ich meine, es sollte nicht vergessen gehen, dass beiden Projekten visionäre Ideen zugrunde lagen, die in jenen Tagen ihresgleichen suchten. Darum will ich hier ein paar Eindrücke und Gedanken beisteuern, nicht zuletzt auch deshalb, weil mein Vater als Versuchspilot in das N-20 Projekt involviert war.
Der N-20 – ein geniales Nurflügelprojekt
Nach aerodynamischen Grundlagenforschungen von Professor Alexander Lippisch („Ein Dreieck fliegt“) entwickelten die Flugingenieure der Konstruktionsabteilung des F+W Emmen, zusammen mit privaten Ingenieurbüros (z.B. Weber-Landolf-Münch in Luzern) ein Kampfjet-Projekt, das zu dieser Zeit in vieler Hinsicht visionär und einzigartig war.
Vom Entwurf wurde vorerst ein Holzmodell im Massstab 3:5 gebaut, teilweise unter Verwendung von Me 109- (Hauptfahrwerk) und Vampire-Komponenten (Bugradfahrwerk). In heutigen Begriffen wäre dieses Modell wohl das „proof-of-concept“.
Das Holzmodell passte als Ganzes in den grossen Unterschall-Windkanal des F+W Emmen, wo es „fliegend“aufgehängt wurde. Mein Vater setzte sich ins Cockpit, und der Windkanal wurde gestartet. So konnten wertvolle Erkenntnisse und Daten über die Wirkung der Nurflügel-Steuerung, die auftretenden Kräfte und die Stabilität gewonnen werden.
Danach folgten erste Hüpfer auf der Graspiste von Emmen. Das Holzflugzeug wurde dabei von Jato-Feststoffraketen (!) am Rumpfende auf seine Abhebegeschwindigkeit beschleunigt. Die Steuerung erwies sich dabei als sehr fein und empfindlich.
Am 17. April 1947 führte „Lädi“ dann schliesslich den ersten richtigen Flug im Schlepp eines C-3603 Erdkampfflugzeugs durch, das vom Einfliegerkollegen Ernst Wyss pilotiert wurde.
Im Schlepp der C-3603
Die aerodynamischen Eigenschaften erwiesen sich als erstaunlich gut, womit sich die Theorien von Professor Lippisch in der Praxis vollauf bestätigten.
Der Gleiter, hoch über Rothenburg
Nach etlichen Flügen ging der Gleiter bei einem Malheur zu Bruch: Im Gegenanflug zur Landung löste sich die Verriegelung der Kabinenhaube, sie flog weg. Der zusätzliche Luftwiderstand verschlechterte den Gleitwinkel derart, dass die Landeeinteilung nicht mehr aufging. Mein Vater war gezwungen, die Maschine vor dem Pistenanfang im hohen Gras aufzusetzen. Dabei wurde das Fahrwerk abgeschert, der Gleiter musste abgeschrieben werden. Der Pilot blieb weitgehend unversehrt.
Ich erinnere mich noch vage, wie mein Vater nach dem Arztbesuch von einem F+W-Chauffeur nach Hause gebracht wurde. Ein grosses Pflaster bedeckte die genähte Schramme an seinem Kinn. Wir waren erschrocken, aber er lachte übers ganze Gesicht, als wäre nichts geschehen…
Die KTA (heute Armasuisse) erteilte dem F+W nun den Auftrag zum Bau des originalgrossen Prototyps, der den Namen „Aiguillon“ bekam. Wegweisende Konstruktionsmerkmale waren etwa:
- ein „durchströmter“ Flügel, das heisst, die Triebwerke waren aerodynamisch in den Flügel verbaut, wie später beim ersten Düsenpassagier-Flugzeug De Havilland Comet. Die Umströmung des Flügels wird dabei durch die Triebwerke kaum beeinträchtigt, die Statik der dünnen Tragflächen aber günstig beeinflusst
- Zweistromtriebwerke (heute als Mantelstromtriebwerke bekannt) bei denen die heissen Abgase von einem kalten Luftstrom „umhüllt“ werden
- seitliche Nachbrennkammern zur kurzzeitigen Schuberhöhung
- ein Bremsfallschirm zur Verkürzung der Landestrecke (damals noch eine Neuheit)
- eine austauschbare Waffenwanne, womit sich das Jagdflugzeug schnell in einen Erdkämpfer, Jagdbomber oder Aufklärer umrüsten liess
- eine absprengbare Kabine, so dass der Pilot die Kabine nicht verlassen musste und auch die Instrumentierung gerettet wurde. (Den Schleudersitz gab’s damals erst im Projektstadium)
- Starthilfe-Raketen und Auftriebshilfen für Starts auf kurzen Behelfs-Pisten, auch Gras, wofür das kräftige Fahrwerk konstruiert war
Siehe auch Videos:
https://www.youtube.com/watch?v=-tb4Gmr9NLo
Noch während der Bau des „grossen“ N-20 in vollem Gange war, wurde ein weiterer Prototyp im 3/5-Masstab gebaut, der N-20.02 „Arbalète“. Dieser wurde mit vier kleinen französischen Turboméca „Piméné“-Triebwerken von je 110 kp Standschub sowie mit einem Einziehfahrwerk ausgerüstet: Er flog am 16. November 1951 zum ersten Mal, und auch er erfüllte die Erwartungen bezüglich seiner Flugleistungen in hohem Masse.
Die N-20.02 „Arbalète“ über der Stadt Luzern
Mehr noch: Das wendige Maschinchen wurde der legendäre Liebling der KTA-Piloten. So sehr, dass nach dem Abbruch des Projektes erst ein Flugverbot von höchster Stelle den begehrten Flügen der Piloten in der „Arbalète“ ein Ende setzte…
Mein Vater erlebte diese Phase leider bereits nicht mehr. An seiner Stelle flog nun Max Mathez die weitere Erprobung. Aber auch ihn ereilte nur wenig später das Flieger-Schicksal: Er verlor 1955 in England auf einem Testflug mit einer Folland Gnat sein Leben.
Zurück zur „grossen“ N-20. Für deren Düsentriebwerke hatten die Schweizer Ingenieure englische Propellerturbinen des Typs Armstrong-Siddeley „Mamba“ zu reinen Jet-Triebwerken mit Zweistromprinzip umgebaut. Eines dieser Swiss Mamba SM-01 Triebwerke wurde an die internierte britische De Havilland Mosquito HB-IMO montiert und so im Flug getestet.
Im Frühjahr 1952 war dann der Prototyp mit den vier „Swiss Mamba 01“-Triebwerken startklar. Testläufe, Rollversuche und erste Hüpfer mit Max Mathez im Cockpit zeigten bald, dass die Triebwerke (noch) nicht die für den Kampfeinsatz erforderliche Schubleistung erbrachten.
Statt des errrechneten Startschubs von 5500 kp wurden aus verschiedenen Gründen lediglich 3520 kp erreicht. Bei Sulzer wurde bereits intensiv weiter an den Triebwerken gearbeitet, zur Ausbaustufe SM-03 und zuletzt SM-05.
Diese Weiterentwicklung hätte letztlich einen Zusatzkredit von 3 Millionen Franken erfordert. Der Antrag wurde vom Parlament in kleinmütiger Weise abgelehnt.
So endete das wohl visionärste Projekt der Schweizer Flugzeugindustrie. Geniale Ingenieure und Aerodynamiker des N-20 Teams verliessen in der Folge enttäuscht das Flugzeugwerk Emmen (und teilweise gar das Land) . Ein Know-how Verlust, der nicht wieder wettzumachen war.
Der Pilatus, in traurige Wolken gehüllt…
Links die (gelbe) „Arbalète“, sie hing lange Jahre im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern an der Decke der Flugzeughalle. Wie auch die silbrige „Aiguillon“ (rechts), hat sie inzwischen im Airforce-Center Dübendorf (Flieger- und Flabmuseum) eine würdige Bleibe gefunden. Denn auch die originalgrosse N-20 hatte zuvor lange Jahre als „Gate Guardian“, auf einen Pillon montiert, im Innenhof des Verkehrshauses Wind und Wetter getrotzt.
https://www.airforcecenter.ch/